Mal öfter die Kresse halten
So steht es weiß auf grün auf einem Werbeprospekt vom Bioladen in unserem Kiez. Ja – denke ich – wieder so ein Spruch für diejenigen, die den Sinn gleich checken – ein Wortspiel – wie aus den 90ern…. Wie gestern in Neukölln gesehen „HAIR-einspaziert“ – ein fescher Name für einen Frisörsalon, oder? 90ties!
Neukölln kenne ich kaum und immer, wenn ich da bin, erlebe ich diesen Stadtteil neu eine fremde Materie, die ich versuche – nicht ganz objektiv – zu verstehen und die mich immer wieder aufs Neue mit einer Befremdung zurücklässt. Auch, wenn wir vor Jahren schon mal unseren Pop-up-Store mit vintage Möbeln in einer Kunstgalerie hatten und ich dort viele schöne und bunte Menschen getroffen habe und es eigentlich in guter Erinnerung habe. Auch gestern habe ich mich auf eine Vernissage im Art Lab meiner Freundin gefreut – und es war sehr schön – und die anfangs befremdlichen Vibes sind unerwartet in einer neuen Erkenntnis gemündet.
Draußen war es nass und grau, wie schon seit Tagen in diesem „cruel July“, und wir fuhren und fuhren die endlos langen Arterien entlang, die man aus Filmen, Serien und Reportagen kennt: Sonnenallee, Herrmannplatz, Karl-Marx-Straße und Columbiadamm… Beton, soweit das Auge reicht – klassische Fassaden wechselten sich mit Brutalismus der 60er und 70er Jahre und modernen Wohn- und Geschäftsquartieren – die Architektur so abwechslungsreich wie ihre Bewohner – ein Kosmos für sich.
Es war kurz vor 20:00 Uhr, die Geschäfte waren im Begriff zu schließen, die Straßen immer noch voller Menschen. Barbershops, Handyläden, Cafés mit Baklava, Bäckereien, Apotheken, Einkaufszentren, Dönerbuden, Brautbekleidung, Reisebüros – das alles zuhauf, in jeder der Straßen in Überfluss vorhanden, hier und da noch ein Discounter, mal eine hippe Matcha-Bar und ein beinah verlassenes Kaufhaus am Hermannplatz …
Dicke Autos in grellen Farben, tiefergelegt oder gepanzert, teilten sich lautstark die Straße mit klappernden Fahrrädern der Studenten, Künstler und allen, die es werden möchten. Ein wildes Treiben, Freestyle – du nimmst dir, was du für dich für richtig hältst – rücksichtslos, der Rest ist egal. Ein selbst erschaffener, autarker Kosmos, der keine Intervention und keine Kontrolle benötigt, er regelt sich von selbst.
Du machst mit oder du solltest lieber mal öfter die Kresse halten ;)
Wir bogen immer wieder in kleine Gassen ab, mit Altbauten und Wohnblocks gesäumt, und auch hier, auf dem alten Kopfsteinpflaster, fuhren und standen willkürlich AMGs und SUVs der Lokals. Und wenn einer gerade Lust hatte, anzuhalten und kurz mal vom Auto aus mit einem zu sprechen, der in Eckcafe seinen Tee mit Baklava genoss, blieb er
einfach mitten auf der Straße stehen und reagierte weder auf Lichthupen noch auf andere Signale. Da dachte ich mir echt: einfach mal die Kresse halten. Er fuhr dann seelenruhig weiter, wenn es sein Ding erledigt hat. Wir drehten schon die dritte Runde um den Block und fanden keinen Parkplatz – was würde ein Lokal machen? Auf dem Parkplatz für
Elektroautos parken, die sind ja frei und es tankt gerade keiner. Doch ich nicht, das geht nicht! Die vierte Runde endete erfolgreich – einer parkte gerade aus.
Und wir stiegen endlich aus und gingen, mir Blumen in der Hand, einen begrünten Platz entlang, an schönen Häusern und netten Cafés vorbei, um bald bald in dem künstlerischen Kosmos einer Künstlerin aus Kanada einzutauchen, und einer aus Iran, und noch einer aus Südkorea. In der Galerie waren Italiener aus Berlin und aus Rom und Kanadier aus Quebec und Toronto und Polen und Berliner und wir unterhielten uns in Sprachgemisch – jung und nicht mehr so – über die Kunst und das tolle Restaurant gegenüber, und über Teenager, die nicht sprechen möchten und über Buddhismus und weltliche Leidenschaften, und über Zigaretten und Feuerzeuge, die die Künstlerin verteilte, über die Madonnas aus ihren Bildern, über Möbelentwürfe und Lebensentwürfe und über den Urlaub am Meer in der Toskana und über den Dauerregen in unserer Stadt und auch über Sonne und Beton.
Und heute denke ich – Neukölln sind wir alle, die Vibes stecken in jedem von uns. Wir begegnen uns in Bubbles, die wir uns selbst bilden, und es kann manchmal schwerfallen, daraus zu kommen und über die Kulturen und Ideologien und Religionen hinauszuschauen. Einfach nur Rücksicht auf andere nehmen und nach Hyon-soo, der koreanischen Künstlerin wiederholen „die ganze Welt ist eine einzige Blume“ – eine weiße Lotusblume, die den Frieden und die Harmonie zwischen der inneren Gelassenheit und der äußeren Welt symbolisiert und in ihrer Vollkommenheit auch die
Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verkörpert. Und so oft reicht es einfach, stehen zu bleiben, das alles auf sich wirken zu lassen und einfach mal die Kresse halten.
MFF, 25.07.2025 / martas.yard
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