Frühling, Sonne, Stadt, Beton. Das Wetter ist seit Wochen „just perfect“. Licht und Wärme, ab und zu ein Paar Regentropfen. Klar – Auswirkungen des Klimawandels… und? Es ist sehr angenehm und tut uns allen durch den Berliner feuchtkalten grauen Winter geplagten blasphemischen Sündern gut – sehr gut. Die Tage sind lang, die Vögel überall, sie wecken uns jeden Morgen hier, mitten in der Stadt.
Das ist ein perfekter morgen. Die Yogapraxis tut mir so gut, mein Geist ist frei, ich bin wach, präsent und neugierig auf den Tag. Eine Freundin schickt mir einen Artikel, den ich lesen sollte und ich verspüre plötzlich eine unwiderstehliche Lust auf einen Cappuccino. Einen richtigen italienischen, und steuere mein italienisches Kiez-Café an. Allein. Und ich freue mich auf die schöne Verlängerung dieses Donnerstagmorgens.
Ich liebe diese lockere Atmosphäre hier, mit der coolen Einrichtung- Bistrotische zum Stehen und Sitzen, dazu passende Hocker, alles aus Stahl und Holz, manche in bunten Farben einfach als Beistelltische an einer Bank an einem Straßen-Beet hingestellt. Von Lokals @worksberlin für Lokals. Wie geil. Die Möbel tragen zu einer ausgelassenen Stimmung bei und passen hier in dem linken Öko-Bullerbü-mit ein bisschen mehr Anspruch-Biotop in Friedrichshain einfach dazu – vintage, industrial und nicht von der Stange – just Berlin style, hier gekonnt gemixt mit Italo-Vibes.
Der Kaffee schmeckt in der passenden Umgebung noch leckerer. Die Sonne scheint durch die jungen hellgrünen Lindenblätter hindurch, ein Paar Tische im Straßencafé sind schon besetzt, viele noch frei, es ist jetzt kurz nach 9. Die Straße ist jetzt so ruhig, alle, die früher schon irgendwohin mussten, sind schon weg, andere, die sich heute Morgen nicht beeilen müssen, kommen langsam ins Café oder sind noch gar nicht wach. Ich öffne den Text und fange an, zu lesen.
Der Autor des Artikels möchte uns ausführlich über unsere leere Welt berichten. Aus seiner Perspektive natürlich. Wie denn sonst? Das alles soll nicht populistisch oder gar propagandistisch klingeln, wie in diesen Zeiten wohl üblich. So zieht er über die Proletarier aus der Eckkneipe im Bayrischen Wald (Bauern), über die Millionenerben (Kapitalisten), Künstler (Feiglinge) in diesem Land her und macht eine elegante Schlaufe über Naomi Klein bis nach Bridgerton. Es wird alles bei Namen genannt: Radikalismus, Gaza, Geflüchtete, LGTBQ+-Rechte, Kolonialismus, Mensch Herbert, Thilo Sarrazin, Aktivismus, Feminismus, Instagram, Oxytocin, Kunst- und Kulturbetrieb, Couture Kleider, Sinn und Unsinn vom Personal Branding, Hipster aus Neukölln, Guggenheim – UND WAS WEISS ICH… ich habe keine Lust, weiterzulesen. Der Stoff reicht für ein ganzes Buch, Herr Autor! Und ja, ich habe wahrscheinlich nur einen Bruchteil mitgenommen und muss es noch ein Paar mal lesen, aber ich weiß jetzt schon genau, was ich dabei gefüllt habe. Wehmut. Man kann zu allen diesen Themen andere Meinung haben und sie dann offen diskutieren – aber kann man das noch? Das würde ich mir wünschen. Und ich hoffe doch, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, weil wir als Gesellschaft gar nicht so hoffnungslos sind, ich glaube stark daran, dass wir uns als Spezies – “the human kind“ – weiterentwickelt haben. Und auch, wenn junge Millionenerben bei einer Champagner-Sause auf Sylt Nazi-Parolen rufen und die links-ökologische herrschende Klasse performativ das Land demontiert, es kommen auch andere Zeiten, mit einer zukunftsgewandten Politik, die die Bürger abholen wird, anstatt sie für das Schicksal des Landes verantwortlich zu machen.
Hier, auf dem Bürgersteig am vintage Tisch sitzend, kann man nicht anders, als hoffnungsvoll sein und mit der Straße eins werden. Und das, was sich vor mir abspielt ist ganz anders als in dem Artikel. Ein amerikanisches Pärchen am Nebentisch genießt schon das dritte Cornetto, plötzlich bemerkt der Typ etwas, steht auf, rennt ein Paar Schritte ins Gebüsch und berichtet der Freundin, dass die Ratte schon groß war. Nebenan beschnuppert ein großer Schäferhund einen weißen Malteser, den die spanischen Punk-Herrchen die Ohren und den Schwanz pink gefärbt haben. Sie diskutieren über Hunde – what dog would you like to have? A pretty one! Ein Mädchen nebenan erzählt über die Impfungen, die für eine Indienreise notwendig sind. Jemand hinter mir überlegt, ob ein Porsche Macan noch ein Porsche ist und was sagt das über einem aus. Kleinkinder auf Holzrollern bekommen gerade einen Schokocroissant und nebenan öffnet sich das Fenster einer Wohnung, zwei Jungs setzen sich auf die Fensterbank und brüllen Hals laut und schief „Alles aus Liebe“ von den Toten Hosen. Und ich kann nicht anders als den immer coolen David Lynch zu zitieren: „I am wearing dark glasses today because I am seeing the future and it’s looking very bright!“
Marta FF. / Martha’s Yard
Berlin, 24.05.2024
Möbel & Projektfotos: Copyright worksberlin.com, außer David Lynch / Pinterest
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